Betrachtung eines Betrachters

Was stiftet zuerst Verwirrung? Das Kunstwerk. Das Bild. Die Skulptur. Die Installation. So wie der Alltagsdieb, ängstlich und ahnungsvoll in einen Dom eintritt, sei er gottesfürchtig oder Atheist, so pilgern die Büßer fremd ihrer eigenen Sinne in die Galerien, Ateliers und Antiquariate. Dort stehen sie dann ehrerbötig, demütig, arrogant oder weise lächelnd vor den Götzen ihrer Einfalt, eines Priesters Predigt nachlauschend, um schlau zu werden aus dem Verhängnis epochelanger Verwirrung. Was sie erwarten, sind Zeichen, die sie, ohne Angst vor ihrer Unfähigkeit, einverleiben suchen, um Anderes als ewig wiederkehrendes und gleichempfundenes sich anzueignen. Da steht der Gemeine vor dem Bild und keine Beichte wird ihm abgenommen, denn seine Religion ist der Voyeurismus. Hier kann er nicht auf Absolution hoffen. Sein Verlangen ist, daß er trotz seiner angeborenen Blindheit Formen und Farben unterscheiden kann, um behaupten zu können, er verstünde.... Denn er, der Voyeur, hat nur so wenig gemein mit dem Schöpfer des Erblickten, wie ein Pope mit Gott. Ihm ist es nicht wirklich gegeben, zu verstehen, da die Götter nicht mit ihm sind, dem Nicht-Eingeweihten, der stattdessen in aufdringlich, oft schon physischer Weise die Nähe eines Künstlers sucht, um den Hauch von Weltläufigkeit und sinnlichem Verstand um sich wehen zu fühlen.

Das Kunstwerk, es versteht sich nicht von selbst. Es ist selbst das immer Unverständige, Unverstandene, Verständnislose, da es nicht entstanden ist aus dem Dialog Zugehöriger eines Volkes, Gemeingesinnter, die eine Sprache sprechen, obwohl man es glauben möge. Zu erkennen glaubt nun einzig der Voyeur, und kann nur erkennen was er selbst erlebt hat, erleben mußte, konnte, durfte.... Nur darauf hin „versteht“ er die Farben, Formen - das gemeinhin Angerichtete. Und nur das will er und wird er bestätigt sehen: daß er ES schon immer wußte, weil er ES erlebt hat. Zwar scheint ES ihm auf den ersten Blick fremd, er aber ist klüger, gescheiter und witziger noch als der Künstler, deshalb ist ES ihm plötzlich vertrauter, da er ihn und sein Werk immer zu durchschauen sich dünkt. Das ist genau, was ihn stigmatisiert: diese unerträgliche Lächerlichkeit, in der er schamlos unterstellt, an den fremden Erlebnissen, am Künstlergleichen wahrhaftig teilhaben zu können und sich mit seiner derart bescheidenen Vernunft in Urteilen jedweder Art ergehen zu können.

Aber er ist verführt. Die Sinnsprache des Kunstwerkes ist eine Sprache der Abkürzungen. Diese muß der Gemeine zu verstehen glauben, da er es gewohnt ist, sich mit schnellem Verstehen an dies und jenes zu ketten, da er dieses Vermögen benötigt, um morgen nicht zu verhungern. Die Flüchtigkeit hat ihn gelehrt, alles zu fassen, was an ihm vorübereilen will, was diesen Hunger stillt und stillen könnte - der Verdauungsprozeß nun, sei er auch mit Schmerzen verbunden, erscheint ihm aber außerhalb seiner Macht zu stehen. Deshalb muß er bei Unwohlsein einen Weisen konsultieren. Eigenes Bewußtsein scheint ihm hier überflüssig, der Instinkt ist ihm Sicherheit genug, die Angst vor Enttäuschung hält ihn zurück, sich auf das Unbekannte wahrhaftig einzulassen. So genügt ihm als Spiegel seine brave Gescheitheit, die ihn einen Rembrandt von einem Picasso unterscheiden läßt, was die Familie in bewunderndes Erstaunen zu versetzen weiß. Darum ist er ein Voyeur und Voyeurismus treibt ihn, sich den Werken der Kunst zu ergeben wie es auch der Voyeurismus ist, der dem Künstler das Raubtier gibt, von welchem er sich und seine Kinder, hochbezahlt und geehrt oder wenigstens in aller Munde verachtet, fressen läßt.

Die einfältige Lust des Kunstgenießers, etwas aufspüren zu können, was man selbst entbehren muß, nämlich das Genie, sich mit Zeichensetzung aus dieser Sucht zu befreien, bleibt eine lästige Sucht, Zeichen zu finden, die vertraut sind, aber immer noch spektakulärer als die, welche das langweilige, öde eigene Leben setzt. Das treibt diesen Dummkopf ins Verhängnis und die Kunst in die Absurdität.

Die unter dem durchsichtigen Mantel der Ästhetik masturbierenden Exhibitionisten bedürfen der Voyeure, die in der bewußtlosen Zurschaustellung ein Eigentliches vermuten, dessen sie teilhaftig werden könnten. Doch ist das fremde, mystische, verwirrende, was sie zu Opfern vulgärer oder feinsinniger Wanderprediger macht - das ihnen wirklich Fremde treibt sie in den Voyeurismus, das, was sie für erwünscht, erhofft bekannt halten. Schamlos entblöden sie ihre Unkenntnis künstlerischer Wahrhaftigkeit, indem sie Lorbeerkränze und Geldpräsente verteilend die in Sinnlichkeit wütende Masse sich unterwerfen wollen. Ihre „Ahs“ und „Ohs“ sind Schauder einer Wollust, welche nur durch flüchtig-gierige Blicke unter einen wehenden Weiberrock oder das zufriedene Zermahlen kandierter Nüsse beim Anblick hungernder Kinder oder im Feuertod sterbender Unglücklicher gesteigert werden kann. Sie bewundern das Elend, das ihnen ferngeblieben ist. Sie bewundern ihren eigenen Feinsinn, zu verstehen. Doch dieser Sinn ist schwach. Stark sind sie inmitten der Gemeinschaft Unwissender, Gieriger oder auch Zahlender, da ihnen so jede Scham weicht und der Blick unverschränkt in die offenen Gemächer der Exhibitionisten geworfen werden kann. Und doch immer sieht der Voyeur, möge er auch ein zahlender sein, sich gestellt von der Angst, sich seiner Stumpfheit überführt zu sehen. Ängstlich versucht er so, sich in sichere Allgemeinplätze zu flüchten, der, der sich Sekunden vorher noch verständig und mit glänzendem Auge als Verständiger wähnte. Deshalb liebt er die toten Künstler. Deshalb bezahlt er immer höhere Unsummen, die sich ihrer absurden Höhe nicht schämen müssen - weil von den Toten keine Verachtung mehr kommen kann, wie sie glauben, weil deren Welt für alle bloß liegt, wie sie denken, ausgetreten in Bibliographien, Galerien, Sammlungen, heimlichen Herrenzimmern und sicheren Banksafes. Die Voyeure allesamt haben sich der Wehrlosen bemächtigt. Welch grausame Vorstellung, man käme plötzlich auf die Idee, die gänzliche Wertlosigkeit eines van Goghs festzustellen: die Gemeinde wäre mit Schande beladen, den falschen Göttern gehuldigt zu haben, da sie ihre Selbstsucht nicht zu zügeln wußten. So werden neue Aktien ausgegeben, die den Wert des eigenen Urteils steigern sollen, rechtens und in Zahlen schwarz auf weiß.

Deshalb lieben wir die toten Künstler. Deshalb achten wir nicht ihre Testamente, da wir beim Blick in fremde Schlafzimmer es schon seit langem nicht mehr gewohnt sind, aus Achtung einzuhalten, Scham zu empfinden. Deshalb zahlen wir die lebenden Künstler in den Wahnsinn oder ans Hungertuch. Weil der Voyeurismus keine Selbstachtung kennt und sich seiner Scham schämt, die er niederhalten muß. Weil die Angst vor dem Entdecktwerden die größte Schande birgt.

Friedrich 1998/2005