Namenlos oder DAS IN DER NÄHE EINES ASCHAFFENBURGER MOTELS AUFGEGRIFFENE KÄNGURUH (15 Kurznachrichten)

DER NORWEGER, als der er sich ausgab, sagte zu den anwesenden Journalisten, sozusagen als Begründung für seinen waghalsigen Sprung, es wäre schon immer sein Traum gewesen, dadurch berühmt zu werden, daß er vom Empire State Building "und vom Chrysler Building, sowie vom World Trade Center" springe. Da es sich um ein in Amerika strafbares Unterfangen handelte, müsse er allerdings seinen Namen geheimhalten. Mit seinem Fallschirm sprang er am hellichten Tage auf Manhattens 42nd Street hinunter. Und wieder, so war zu lesen, sah die Polizei ihn nur von hinten - beim Weglaufen. Mit dem Fahrstuhl war er zuvor in das 65. Stockwerk des Chrysler Buildings hinaufgefahren, ließ sich von dort mit einem Seil an der Außenfassade des gerade renovierten Gebäudes zu seiner Absprungstelle hinab, um nach einem dreisekündigen Freiflug die Reißleine des Schirms zu ziehen. Zwanzig Sekunden später landete er in besagter Straße zwischen parkenden Autos und weiteren namenlos gebliebenen Passanten.

DER LEOPARD, der sich in ein Schlafzimmer einer indischen Familie verirrte, schlief nach einstündigem Genuß des Fernsehprogrammes entkräftet auf dem Bett ein, wo er seelenruhig und anfänglich wohl noch interessiert gelegen hatte. Die Mutter des vierjährigen Sohnes wollte diesen Umstand erst nicht zur Kenntnis nehmen, entdeckte das Raubtier dann doch und floh in einen Vorort der Kleinstadt. Von der Erklärung, daß der Leopard aufgrund der verworrenen Handlung der zu dieser Zeit gesendeten indischen TV-Soap einschlafen mußte, ließen sich die Tierschützer, die das Tier schließlich einfingen und in einen sicheren Zoo verbrachten, nicht abbringen.

DER JUGENDLICHE, der als einziger nicht von dem Tee aus Stechäpfeln, den ein Schüler heimlich zubereitete, genossen hatte, wurde gestern in eine Nervenklinik in Schwerin eingewiesen. Der stille Schüler fand bei einem abendlichen Zimmerbesuch im Jugendhotel seine 19 Schulkameraden fast bewußtlos und mit weiten Pupillen inmitten der Zimmer liegen. Er nahm an, daß alle bereits tot wären. Wie ein Arzt feststellte, handelte es sich aber nur um eine, wohl schwerwiegende, aber nicht tödlich verlaufene sogenannte Atropinvergiftung, die durch die Alkaloide in den Stechäpfeln ausgelöst wird. Ob der Tee wegen seiner halluzinatorischen Wirkung gekocht wurde, war noch nicht festzustellen. Der Jugendliche gab an, daß er jene schrecklich verzerrten Gesichter nicht mehr aus seinen Träumen bannen könne. Würde man ihn mit schweren Antidepressiva behandeln, könnte er die Klinik vielleicht in einem halben Jahr wieder verlassen, sagte der behandelnde psychiatrische Arzt. Die von der Vergiftung Betroffenen wurden einen Tag nach Verabreichung eines Gegengiftes wieder aus dem Krankenhaus entlassen, jedoch nicht ohne von den Ärzten für ihr leichtsinniges Verhalten gerügt worden zu sein.

DAS IN DER NÄHE EINES ASCHAFFENBURGER MOTELS AUFGEGRIFFENE KÄNGURUH ist nunmehr das vierte, welches innerhalb eines Jahres seine Freiheit in den deutschen Wäldern suchte. Auch in Salzburg kam es zu einer Festnahme eines solchen Tieres, welches am Mittwochabend aus dem städtischen Zoo ausgebrochen war und seither durch die Straßen und angrenzenden Wälder streifte. Verbindungen zu einer deutschen Population der eigentlich scheuen Tiere konnten nicht bewiesen werden, berichtete die österreichische Polizei, die mit einer Hunderschaft von Bereitschaftspolizisten und der Unterstützung eines Hubschraubers und weiterer schwerer Technik nach stundenlangem Einsatz dem Tier habhaft werden konnte. Das etwa 70 Zentimeter große Känguruh wurde als "völlig ungefährlich" beschrieben.

DIE KINDESMÖRDERIN, die in einem Indizienprozeß zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, in einer nach zehn Jahren durchgeführten Revisionsverhandlung einen Freispruch erwirkte und nach vier Jahren Freiheit ein drittes Mal wegen der Ermordung ihrer beiden Töchter vor Gericht stand, um wiederum auf Lebenszeit hinter den Gittern des Frauengefängnisses zu verschwinden, konnte jetzt in einer erneuten Revisionsverhandlung nachweisen, daß aufgrund der Indizien nur festzustellen sei, daß entweder sie oder ihr Mann die fünf und sieben Jahre alten Kinder erwürgt haben mußte, aber nicht, daß es zweifelsfrei nur sie allein gewesen sein konnte, was nach erheblichen Zweifeln an den bereits erstellten Fachgutachten zu einem erneuten Freispruch letzte Woche führte. Damit verband sich die Feststellung des Gerichts, daß sie nun nach Lage der Indizien nicht mehr als Kindesmörderin bezeichnet werden dürfe.

DER EHEGATTE, der sich immer als treusorgend, als liebend und liebenswürdig einschätzte, mußte sich nun, an einem durchaus heiterem Sonntagnachmittag, den Vorwurf seiner immer noch reizenden Frau anhören, daß er ihr nie Pralinen schenke, so gänzlich ohne Anlaß, aus freien Stücken, aus Liebe sozusagen. Als er nach langem Zögern und einigen Tagen, in denen er mit der Vergeßlichkeit seiner Frau rechnete, sie schließlich unverhofft mit einer riesigen Schachtel der feinsten Pralinés überraschte, fragte sie ihn nur ungehalten, ob er wünsche, daß sie noch dicker werde. Beider Resignation war deutlich spürbar.

DIE JUNGE FRAU AUS BÖBLINGEN überlebte die vierzehn Messerstiche nicht, die ihr der Bräutigam in wohl rasender Wut beigebracht hatte, nachdem sie ihm am Rande eines Karnevalsfestes ihre Entscheidung, sich von ihm zu trennen, mitgeteilt hatte. Wie er erklärte, nicht um sie zu töten, stach er auf sie ein, sondern um ihre Liebe, beider gemeinsame Liebe zu retten, die die Verstorbene wissentlich zum Tode verurteilt hatte, es aber wert war, daß er sie bis auf das Messer verteidigte. Das Gericht revidierte die Anklage des Staatsanwaltes, der den Täter wegen Totschlages im Affekt hinter Gitter sehen wollte und verhängte eine lebenslängliche Gefängnisstrafe wegen vorsätzlicher Tötung.

ALS PIETRO DINEZ, SOHN EINES ARGENTINISCHEN MILLIONÄRS UND FORMEL-I-RENNFAHRER von den Journa-listen nach dem Rennen im Straßendschungel von Monaco gefragt wurde, ob er nicht auch glaube, daß er den ersten Rennsieg seiner achtjährigen Karriere nur dem Umstand zu verdanken habe, daß alle anderen wegen technischer Defekte und Karambolagen ausgeschieden sind, antwortete er mit der Gelassenheit eines wirklich großen Rennfahrers, daß er sich ja nur aus Vertrauen auf seine hervorragenden Fähigkeiten hin überhaupt diesen Start erkauft habe und, wie man sähe, hat sich dies ausgezahlt und sein Können eindrucksvoll bestätigt.

DER FÜR SEINE MESSERSCHARFEN ANALYSEN BEKANNTE UND TROTZDEM WENIG BELIEBTE LITERATURKRITIKER konnte nach einer Stunde, in der er den neuesten Roman eines heimlich von der Öffentlichkeit immer für den Nobelpreis nominierten, aber vom Komitee nie wirklich in Betracht gezogenen Schriftstellers in fast schon boshafter, auf jeden Fall aber ironischer Weise diskredidiert hatte, sich nicht dem Drange enthalten, den schweigsam beiwohnenden Autor mit der immer schon trivialen Frage zu belästigen, was er, der Dichter, denn nun mit seinem Werke sagen wolle. Dieser antwortete nur trocken, daß er habe nichts sagen wollen, denn sonst hätte er sich nicht der zweijährigen Qual unterzogen, ein Buch zu schreiben. Vielen blieb diese Antwort so unverständlich wie das Buch selbst, mindestens aber wie des Kritikers Kritik.

DAS KIND, WELCHES VON SEINER MUTTER ZU SEINEM VATER GETRAGEN WURDE, war von vornherein zum Tode verurteilt, doch es hatte keine Chance, irgendetwas dagegen zu unternehmen, daß es den Beschluß des Vaters hören mußte. Spätestens dann, wenn die Mutter mit diesem unguten Gefühl im Unterleib die Tür zu seinem Atelier würde öffnen, wäre schon alles gesagt und die Türe könnte geschlossen bleiben - so als wenn nichts ausgesprochen wäre, könnte das Kind mit seiner Mutter wieder ein oder zwei Tage fliehen, vor dem Wort oder der endgültigen Exekution, die, wie gesagt, beschlossene Sache war und wohl der Mutter die größere Pein bescherte, da sie glaubwürdig wirkte, mit ihren Tränen, dieses Kind zu lieben und jenes selbst sich nicht anders gegen dieses Urteil auflehnen könnte, als Suizid zu begehen, um wenigstens einen selbstbestimmten Tod zu erleiden. Wohl um noch schnell ein plötzlich aufkommendes Bedürfnis zu befriedigen eilten Mutter und Kind in die Sanitärräume neben den Ateliers und dort gebar sich das Kind, welches als solches schon leicht zu identifizieren war unter wenig Schmerzen der Mutter in den Abort. Als diese wenig später das Haus mit einer Plastiktüte verließ, ohne die Tür zum Atelier geöffnet zu haben, empfand sie Erleichterung, obwohl ihr körperliches Unwohlsein eher noch zugenommen hatte.

DER PHILOSOPH (und damit sein Vorhaben einer umfangreicher Betrachtung zum Tod) starb, wie er in seinem Testament heraushob, viel zu früh, als daß er dieses Buch beendigen konnte, da er es immer für unabdingbar hielt, daß man auch sein ideelles Wissen nur aus unmittelbarer Erfahrung schöpfen könne und nicht denen anderer trauen dürfe und erst recht nicht, wolle man ernst genommen werden, es unter eigenem Namen wieder anderen zugänglich mache. Da ihn aber nur dieses Thema, der Tod, wirklich interessiere, und er deshalb seine sämtlichen Manuskripte, die sich mit den profanen Dingen des Lebens befaßten, beim nahen des eigenen Todes den Flammen übergab, bedauere er es sehr, nun nicht als Philosoph sterben zu können, da er ja sein nunmehr einzigstes Werk nicht beendigen würde können, schrieb er in besagter letzter Verfügung, die unter anderem auch beinhaltete, daß, falls sich noch Reste dieses Buchmanuskriptes finden ließen, diese unverzüglich vernichtet werden müßten, damit er nicht als der in die Philosophiegeschichte einginge, der wie alle nur ein äußerst unvollkommenes Werk über dieses doch so vollkommene Thema zuwege gebracht hat.

DER FÄLSCHER, dem es für einen exorbitanten Preis gelang, ein auf original handgeschöpftem Büttenpapier kunstvoll gezeichnetes Skizzenblatt, was er aus einer 500jährigen Bibel ausgerissen und mit einer nach altem Rezept hergestellten Tusche zeichnerisch veredelt hatte, an die russische Tretjakow-Galerie als Originalskizze des großen Leonardo da Vincis zu verkaufen, sagte bei seiner Entdeckung durch einen auf Kunstfälschung spezialisierten Amerikaner, der durch eine physikalische Methode dem wahren Alter des Tintengemisches auf die Spur kam, daß er nie und nimmer als Fälscher verurteilt werden könne, da zu diesem, Leonardo zugeschriebenem Skizzenblatt, überhaupt kein Original existiere und da es nicht einmal den Namenszug des Italienerss trägt, er sogar vom Vorwurf der Urkundenfälschung freigesprochen werden müsse. Vielmehr sei der Vorwurf an die übereifrigen Kommissare zu richten, da durch ihr Engagement die Welt um ein bedeutendes Kunstwerk des Genies ärmer geworden ist, welches bis dato von allen Experten, die in der Welt der Kunst Rang und Namen haben, als solches anerkannt worden ist.

DER DOKTORAND, dem nach seiner erfolgreichen Verteidigung seiner Dissertation über "Methodische und irrationale Prädispositionen beim Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten" einige Kritiker vorwarfen, daß es sich bei seiner wissenschaftstheoretischen Arbeit ja nur um eine modernere Kopie der Untersuchungen seines Förderers und Mentors handele, also eigentlich weder neue Erkenntnisse noch ein anderes Verständnis der Realität im gewählten Feld ermögliche, wußte sich geschickt von diesem Vorwurf freizusprechen, indem er darauf verwies, daß seine eigentliche wissenschaftliche Leistung darin bestand, dem genannten Professor, der im methodischen Gebiet als Koryphäe gilt, genau dies glauben zu lassen, daß er, der Mentor, glaubt, daß sein Zögling glaubt, des Meisters Vorgehensweise wäre die günstigste aller Möglichkeiten und damit konnte er gerade jene Hauptthese seiner Arbeit bestätigen, daß letztendlich der Einfluß des sozialen und wissenschaftlichen Kontextes und somit die persönliche Einflußnahme von Wissenschaftspersönlichkeiten entscheidend für den Inhalt und die Bewertung einer wissenschaftlichen Arbeit sind. Mit dem Prädikat magna cum laude fand er schnell einen Verleger.

DIE VON DEN KINDERN MIT EHRFURCHT GELIEBTE SCHLANGE muß sich, so die Biologielehrerin zu ihren Schülern in der ersten Woche nach den langen Ferien zum Jahreswechsel, in einer für sie absurden Situation befunden haben, obwohl sie natürlich, wie man zu bedenken geben muß, sich ihres Zustandes nicht bewußt war, erst recht nicht, als sie in jene bedauernswerte Starre fiel, in die für gewöhnlich wechselwarme Tiere fallen, wenn die Umgebungstemperatur einen bestimmten niedrigen Wert erreicht, wie er erreicht wurde, als der Strom im Schulgebäude zum Weihnachtsfeste abgeschaltet wurde und somit auch die Heizung, die gewöhnlich eine der Schlange angenehme Hitze schafft.

DER IN FACHKREISEN HOCHANGESEHENE WISSENSCHAFTSTHEORETIKER, der bekanntermaßen in seiner Theorie die Möglichkeit von wissenschaftlichen Revolutionen derart einschränkte, daß eine solche nur mit jungen, ehrgeizigen und noch nicht an Lehrstuhl und eigenen festgefahrenen Denkansätzen gefesselten Jungakademikern, die höchstens dreißig Jahre zählen, zu machen sei, verlor nun, nachdem er dieses kritische Alter schon längst überschritten hatte, seinen hochdotierten Lehrstuhl an einer berühmten amerikanischen Universität. Die Begründung des eingerufenen Wissenschaftsrates zu seiner Emeritierung war folgende: ginge man von der absoluten Richtigkeit seiner Theorie aus, müsse er eingestehen, daß er nun selbst das Alter überschritten hätte, in dem man von ihm noch wirklichen wissenschaftlichen Fortschritt erwarten könne. Somit dürfe man ihn nicht mehr mit gutem Gewissen in so einer hohen Position lassen, jüngere würden schon warten. Nimmt man nun aber den Fall, daß seine Theorie falsch ist und ein Wissenschaftler über dreißig dennoch zu bemerkenswerten wissenschaftlichen Leistungen in der Lage ist, so müsse man sich erst recht von ihm trennen, eingedenk des Spottes der Wissenschaftswelt, jahrelang einen Professor ein Auskommen finanziert zu haben, dessen Lehre sich erwiesenermaßen als falsch herausgestellt hat. Wie man hörte, soll sich der derart von der Bildungseinrichtung gewiesene Wissenschaftler nun dem Verfassen belletristischer Literatur zugewandt haben, da er, wie er sagt, in der Wissenschaft keinen Platz mehr beanspruchen mag. Verwundert war er jedoch, daß das doch schon recht überalterte Gremium nicht schon viel eher seine Emeritierung vorangetrieben habe.

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