ZUG (1998/2007)

I
Ein Mann betritt das Abteil. In der Hand eine schwere Tasche, die er auf einem der Sitze abstellt. Hinter ihm eine Frau. Sie steht vor der Schiebetür, wohl darauf wartend, daß der Mann die Tasche in das Gepäcknetz hebt. Der Mann reibt sich die Hände, legt die Finger an einander. Ballt sie zu zwei Fäusten, daß die Gelenke hörbar knacken. Nun beugt er sich über die Tasche, als wolle er etwas herausnehmen. Aber nach kurzer Besinnung packt er diese und bugsiert sie sichtlich mühevoll in das Gepäcknetz. Endlich kommt auch die Frau herein. Auch sie ist schwer beladen mit einer Umhängetasche, einem Koffer und einem Stoffbeutel. Sie stellt alles vor dem Mann ab, der nun an das Fenster gedrängt kurz verharrt. Sie hebt den Blick von ihrem Gepäck und schaut ihn an. Er versteht dieses Zeichen und greift nach dem größten Gepäckstück, um es ebenfalls über ihren Köpfen zu verstauen. Beim Bücken fällt ihm eine dicke Zeitschrift oder Zeitung heraus.

II
Das Abteil ein Abteil, wie in jedem Zug. Zwei Menschen, Reisende wohl, ja ganz bestimmt, kämpfen sich durch die Gänge, gegen ihren Schweiß, die Hitze in diesem Zug oder sie schwitzen den Schweiß kranker Körper. Die Behältnisse, die sie mit sich führen, sind als Koffer erkennbar, zum Umhängen wohl oder nur zum Tragen. Die angestrengte Haltung der beiden läßt auf ein großes Gewicht schließen. Vielleicht sind die Koffer gefüllt mit Büchern, wertvollen aus seiner Bibliothek oder von seinem Großvater, der kürzlich gestorben ist. Oder es es sind die Kostüme eines Theaterstückes, in dem sie beide spielten oder die ihrer Hochzeit, die sie allein mit dem Pfarrer im Garten eines flüchtigen Freundes eingingen in der Hoffnung einer Dauer, die Steine zermürbt. Ein leeres Abteil, zu dem die zwei hinstreben, sie suchen nicht, sie öffnen die Tür, die schwergeht, weil den Mann, der vorangeht, die Kraft verläßt oder weil er mißmutig der näheren Zukunft des Zugfahrens entgegenblickt. Oder hilft er ihr nur, dieses schwere Gepäck in den Zug zu bringen, um sie dann wieder zu verlassen, wortlos oder mit einer Träne in den Augenwinkeln oder mit häßlich gerötetem Gesicht, daß er immer bekommt, wenn er hemmungslos weint. Vielleicht gibt er ihr aber noch einen Kuß, einen fast väterlichen, der eine unbestimmte Zeit des Getrenntseins überbrücken soll, oder nur ein Zeichen familiärer Verbundenheit, eingelebter Routine ist. Vielleicht hat er sie zufällig kennengelernt, in diesem Bahnhof, sie hat ihm gefallen und er führt einen ungefragten Dienst aus, ihr das Gepäck in jenes Abteil zu schleppen, um als Dank ein Lächeln und die Hoffnung auf ein Wiedersehen zu ernten. Die Zeitung, die aus seinem Mantel herausragt, war der eigentliche Grund, hier auf diesem Bahnhof zu sein, in einer ihm fremden Stadt, in der er für kurze Zeit arbeiten muß und den Bahnhof als einzigvertrauten Ort wiedererkennt als Heimat ewig Reisender, da Bahnhöfe dieses Unbestimmte haben, was sie vergleichbar macht mit den Orten seiner Erinnerung. Hier kauft er seine Zeitung, inmitten der Geräusche, Gerüche und Menschenmengen, die ihn anziehen, wenn er in seinem Zimmer einsam gegen das unhörbare Fortschreiten der Zeit arbeitet, schreibt oder zeichnet, entwirft. Vielleicht entwirft er Bahnhöfe oder kalte Maschinenhallen, in denen sich selten Menschen verlieren. Daher die Liebe zum Schmutz und den bettelnden Musikanten, dem Stimmengewirr und den schreienden Müttern auf den Bahnhöfen. Vielleicht denkt er gerade in dem Moment, als er den schwersten Koffer in das Gepäcknetz hebt, daran, daß er vor der Abfahrt des Zuges wieder hinaus muß, durch das suchende Gewühl des Ganges, der Mäntel und Kinder. Daß der Zug in einer Minute den Bahnhof verlassen will oder wenig später. Oder es ist seine Frau, die er aus den Augen schafft, froh einige Tage zur Besinnung zu haben, über eine lange Zeit, derer sie eins waren und im Herzen noch sind. Ihr hebt er die Taschen über die Köpfe. Die Dinge, die sie unnötiger Weise als Ergebnis ihres beider nicht zu übersehenden Wohlstandes kaufen mußte, die wertvoll nur im Anblicken gewesen sind, jetzt, wo sie verstaut auf ihre Benutzung am Ziel der Reise harren, sind sie schon verloren in all dem Kram, der überflüssig die Schränke im Hause verstopft, nur noch Zeugnisse des Aktes ihrer Inbesitznahme. Erklärt dies seinen mißmutigen Zug um den dünnen Mund, der verkniffen scheint, es wohl aber auch infolge jahrelangen Brütens sein kann, wie der unsinnige Ärger, der nur durch die endlose Beziehung zu einem Menschen entstanden sein kann, zu verkraften ist, ohne sich aufzugeben? So sind auch diese vorzeitig ergrauten Schläfen nur ein weiteres Insignum seiner Hoffnungslosigkeit, die er in Gleichmut und Ignoranz zu ertränken versuchte, die seine Stirn zerfurchten und seine Bewegungen kraftlos machten. Oder hat ein Erlebnis, ein Krieg, ein Unfall, ein plötzlicher Tod diese Erinnerungen in seinen Körper gebrannt. An die er jetzt nicht denkt, wenn er vor dieser Frau das Abteil betritt, den Koffer in das Netz hebt, vor den folgenden, die sie in die Mitte auf den schmutzigen Boden stellt, an das halbgeöffnete Fenster drängt. Seine Brust hebt sich schwer, es kann die Mühe sein, gegen eine Krankheit zu kämpfen, gegen die tägliche des Zu-Zweit-Seins, gegen eine überstandene Tuberkulose oder einfach die Anstrengung des Koffertragens, das lustlos geschah. Die Frau, die ihn nicht anschaut, scheint den Wunsch zu verspüren, etwas aus ihren Taschen an das ewig gleiche Licht der Zugabteile zu befördern. Es wird ein Andenken sein, daß sie dem Mann mitzugeben wünscht, ein Buch, daß er sich schon lange hat kaufen wollen, es aber immer vergaß, was sie ihm vor Jahren in einem kleinen Pariser Hotel vorlas, bei billigem Wein und dem Schein heruntergebrannter Teelichter. Was verloren ging bei dem Umzug aus ihrer Studentenbude in das kleine, aber neue Haus, das sie von ihrem Kredit errichten ließen, den sie aufgrund seiner erfolgreichen Bewerbung an der dortigen Universität aufnahmen. Es kann auch ihre Zuglektüre sein, ein einfaches Heftchen vom Bahnhofskiosk mit einem sinnigen Titel, der nicht mehr, als auf die Sehnsucht besserer Zeiten verweist, die nicht mehr kommen werden, mit denen man auch nichts mehr anzufangen wüßte. Was will man leben in einer Bergidylle, mit einem Frauenarzt, der einen versteht, dem Unglück des frühen Kindestodes, der Mutter zu einem besseren Menschen macht? Vielleicht denkt sie auch an die silberne Kette, die in einem hölzernen Schächtelchen tief unter den Dingen in diesem Koffer verborgen ist, die Kette mit dem Medaillon zum Aufklappen, in dem sich das vergilbte Bild eines jungen Mannes befindet, wohl aus dem ersten Weltkrieg, ein Gefallener, oder aus dem zweiten, ein stolzer Offizier, die Schultern mit Ehrenlaub verziert, eine heimliche Liebe ihrer Großmutter, ihrer Mutter, die sie eben unter die Erde der fremden Heimat gebracht hat. Sie möchte sie anschauen, in den Händen halten. Sie möchte dieser Erinnerung mit ihren Fingern habhaft werden, die Erinnerung an die Frau, die diese Kette trug und auch nicht in schlechten Zeiten für einen Sack Kartoffeln verkaufte oder ein Päckchen Zigaretten, um ihrem Mann eine einzige Freude zu Weihnachten zu machen. Sie läßt diese Schachtel im Koffer, nein, sie öffnet den Koffer nicht einmal, vielleicht hat sie sich der Mühe des Suchens besonnen oder ihr ist soeben eingefallen, daß sich die Wegzehrung ja doch in der anderen, kleineren Tasche befindet, die sie daneben gestellt hat. Sie öffnet die Tasche nicht, läßt all die Mieder, die Bücher, die Reichtümer im Dunkeln, die Schminktasche, das Beauty-Case, wie ihre vorlaute Nichte zu wissen gibt, in dem doch nichts für die Schönheit ist, außer dem Lippenstift, der wohl sündhaft teuer, aber kaum benutzt zwischen Tampons, Haarspangen, Handcreme, Nähzeug und Nagelfeilen ein vergessenes Dasein führt. Die Mühe ist ihr schon immer zu groß gewesen, den täglichen Kampf gegen das Alter zu führen, die Lust ist eh schon früh geschwunden, den verschwommenen Schönheitsidealen wie Affen reagierender Männer zu entsprechen, die jeden kurzen Rock und überschminkten Mund für den Gipfel der erotischen Ausstrahlung halten und doch nur mehr ihren tierischen Affekten anheimfallen. Sie hebt den Kopf nun doch, in Richtung Fenster könnte man meinen, durch ihn hindurch, könnte man denken, auf eine Uhr die sich vielleicht hinter ihm auf dem Bahnsteig befindet, um die Minuten zu zählen, die zu einem Abschied noch bleiben. Ein Abschied, von dem beide gewußt haben, den niemand ersehnt hat, dessen Notwendigkeit sich aber entgegen einer schaudernden Sehnsucht in ihr Pflichtbewußtsein geschrieben hat. Ein Abschied, der ohne Tränen sein wird, sein muß, da man ein Alter erschritten hat, in dem solche Tränen die erste Schwäche verraten, die, im Leben nichts gelernt zu haben, nicht gelernt zu haben, diese Tränen gegenüber dem fast noch Unbekannten im Griff zu haben, wie all dieses Leben, das einen im Griff hat. Diese Uhr, sie sieht sie nicht, sie versucht es auch nicht, sie zu entziffern, wenn sie sich dort befände. Ihre Augen sind schlecht, ihre Kurzsichtigkeit erstaunlich und erheiternd für ihn, der ihre hilflosen Blicke liebt, wenn sie nach dem Aufstehen die Rotweinflasche vor dem Bett umstößt, die sie beide weit nach Mitternacht, den letzten Liebesrausch noch verlängernd, austranken. Es war ihre Brille, die sie in der Tasche vermutete oder ihre Kontaktlinsen, die ihren Makel verbergen und ihr Gesicht nicht entstellen. Aber ihr ist eingefallen, daß sie diese Utensilien ja eh schon bei ihrer Ankunft hier vergessen hatte, was sie sehr ärgerte, aber nicht dazu hinreißen ließ, für diese zwei Wochen eine sündhaft teure Brille zu kaufen. Womöglich noch in einem dieser unglaublich elitären Läden, die nicht mehr von Brillenverkäufern, sondern von Designern geführt werden. Oder sie ruhte nur für wenige Sekunden in der Hockhaltung kleiner Mädchen über die Tasche gebeugt, bis er sich regen würde, um ihr zu Hilfe zu kommen oder ihr ein liebes Wort zu sagen, ihr mit seiner geliebten, großen Hand über das zusammengebundene Haar zu fahren.
Mit einem Ruck bewegt er sich nach vorn, ihr Blick hieß ihn seinen Auftrag zu erfüllen, den er als Mann in die Wiege gelegt bekam - schweres Gerät von einem Ort zum anderen zu bringen. Keine Duldung der Schwäche oder steht die erwartet baldige Abfahrt an? Sollte er einfach die Zeit vergessen, sich setzen, mit dieser unbekannten Frau einige Stationen fahren, ihr ein Teil seines Lebens beichten, ihr ALLES erzählen und am Endbahnhof den Missionspfarrer zu einer Sofortverheiratung überreden, da ihre Seelen zwischen zehntausendundeinem Schwellengeräusch längst verschmolzen sind, wie sie es sich seit dreißig Jahren ihres Denkens als vollblütiger Mensch erträumt haben? Werden sich ihre Hände erst zögernd, wie zufällig berühren, um dann wie in Gegenwart einer letzten Möglichkeit zur Rettung sich in die Handflächen des anderen zu krallen, auf daß dieser Moment alles LEBEN aufwiegt, das sie nicht gelebt haben in ihrer Verzweiflung, es dem Gang der Dinge recht zu machen? Sein abruptes Vorwärtsbewegen kann die Verdrängung eines ewig wiederkehrenden Tagtraumes sein oder eines Déjà-vus, welches ihn in plötzlicher Verwunderung der Absurdität seiner Anwesenheit in diesem Abteil bewußt werden ließ. Erwartet sie sein entschlossenes Verschwinden, über sie, die immer noch über der Tasche zu ihm aufschauend kniet, hinweg, diese Gelegenheit ausnutzend endlich verschwinden zu können? Er bewegt sich auf sie zu, um sich gleichfalls in die Beuge begebend ihr trauriges Gesicht in die Hände zu nehmen, die wenigen Minuten schweigend auszunutzen, die keiner Worte bedürfen, um sie zu füllen. Er bewegt sich auf sie zu, um im Gepäcknetz Platz zu schaffen, für die weitere Tasche, über der sie mit einem Grinsen hockt, als wollte sie sagen, das ist jetzt dein Job, Alter, zeig, was du drauf hast, das wird nicht so einfach...Er bewegt sich auf sie zu, um wieder innezuhalten, wie als begreift er die Sinnlosigkeit dessen, was er zu tun gedachte. Die letzte Woche zieht an ihm vorbei und immer wieder dieses Gefühl in der Magengegend, die ihn ein Unglück leibhaftig werden läßt, fühlbar werden ließ, daß er nicht mehr ertragen will. Es waren die Demütigungen, die ihn zu dem Entschluß drängten, diese Stadt, diese Frau, die jetzt noch über seiner Tasche hockt, zu verlassen. Ihr will er diese, seine Tasche entreißen, die wenigen Gegenstände, mit denen er hier ein neues Leben hat anfangen wollen, die zwei Anzughosen, die er nicht benötigte, das weiße Hemd, noch gestärkt wie zu seiner Ankunft, das Geschenk, das er wieder mitnimmt, da er nicht gewillt ist, in ihrem Leben nur ein Ding zu lassen, daß ihr einen Hinweis auf seine Niederlage und die Lächerlichkeit seines Handelns geben kann.
Beim Hinunterbeugen fällt ihm die Zeitschrift aus der Innentasche heraus, ihr gewissermaßen auf den Kopf, die sich soeben anschickte, aufzustehen, nun aber versuchte, die fallende Zeitung aufzuhalten. Auch sein Körper warf sich der Bewegung der Blätter hinterher, mit dem Ergebnis, daß ihre Köpfe schmerzhaft zusammenstießen. Nach dem ersten schockierten Schweigen erheben sie sich lachend, um sich gegenseitig die Blessuren abzutasten. Diese Gelegenheit nutzt sie, zum letzten Mal wahrscheinlich, seinen Kopf an sich heranzuziehen, um mit der Hand, die seinen Nacken berührt, die Wärme seines Körpers dieses Mal noch zu spüren, diese Wärme, die so lange eine vertraute gewesen ist und nun für immer entschwinden soll. Das es für immer ist weiß sie, da der Abschied wohl tränenreich sich über Wochen hinzog, aber in nüchternem Zustand nicht die geringste Chance bestand, diese Beziehung je wieder in die Bahnen zu bringen. So blieb ihr nur ein hilfloses Verständnis, um den Tag der endgültigen Trennung hinauszuzögern, da sie ihm keinen erwünschten Anlaß bot, sich in Wut sofort von ihr zu entfernen, verstärkt in seiner Liebe zu jener, die Ursache ihres Schmerzes und dieses Abschiedes ist. In diesem kurzen Herzschlag schießen ihr die Tränen von Monaten durchwachter, zerstrittener Nächte in die Augen. Sie hat keine Kraft, sie zurückzuhalten, sie wollte es kurz, aber was sollte es nützen, die letzte falsche Stärke, wo doch alles zerstört ist. Sie will ihn nicht erpressen und sie weiß, daß der Zeitpunkt überschritten ist, an dem sie das noch hätte können. Stärker nun kommen ihr jetzt noch die Tränen, die sinnloser als je zuvor ihr scheinen, die sie entleeren werden vor dem ersten und endgültigen Abend, an dem sie ohne ihn sein wird und vielleicht nicht mehr über Tränen verfügen wird. Ihr Weinen ist fast unbemerkt aus dem Lachen übergegangen, er senkt seinen Kopf, als will er ihr seine Verletzung zeigen und doch senkt er ihn, um dieser Wahrheit nicht in die geröteten Augen zu schauen, dieser Verwzeiflung, die ihn erschlägt, weil er ihr nicht mehr folgen kann, da sein Herz voll ist, voller Zukunft, die er nicht dem Fluß des Vertrauten opfern will, nicht den Tränen der eigenen Verlassenheit von Hoffnung für diese Zweisein, das nun endgültig ein gewesenes ist.

Leipzig 1989 / 2007
veröffentlicht in: webstories2 (1998): München, S. 78-84.
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